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Der verlorene Drachen

Aktualisiert: 13. Nov. 2023


Sie betreten das Altersheim an einem kalten Januarnachmittag. Er trägt dunkle Schuhe, einen Mantel und eine Maske, auf die sein lächelnder Mund gedruckt ist. Die Maske seiner Begleiterin ist schneeweiß, lange blonde Haare fallen ihr über die Schultern.

Im Gehen zieht er sich den Schal vom Hals; der Frau am Empfang nickt er nur kurz zu, sie kennt ihn.

Schweigend gehen sie die Flure entlang; rechts, links, eine Treppe, dann wieder links. Weiße Wände, deren Farbe an einigen Stellen etwas bröckelt. Ab und zu hängen Bilder daran. Dazwischen Türen aus hellem Holz mit kleinen Rahmen aus Metall, in denen je eine Namenskarte steckt.

Vor einer der Türen bleiben sie stehen, werfen sich einen kurzen Blick zu. Dann klopft er.

„Herein!“ Die Stimme von drinnen klingt alt. Und überrascht.

In dem Zimmer stehen ein Tisch, ein Bett, ein Sessel und ein Fernseher. Ein großes Fenster gibt den Blick frei auf den weitläufigen Garten des Heims. Davor steht ein Mann.

„Hallo Papa.“

Das Gesicht des Alten hellt sich auf. „Du bist es. Aber warum hast du denn dieses Bild im Gesicht?“

„Es ist doch Pandemie.“

„Ach ja, ach ja. Wen hast du mir mitgebracht?“

„Meine Frau.“

„Oh. Entschuldigung – hinter der weißen Maske habe ich dich gar nicht erkannt.“

„Ist nicht schlimm.“

„…wie lieb, dass ihr einfach so vorbeikommt.“

„Ich besuche dich jede Woche, Papa.“

Er sieht ihn an und erwidert nichts.

„Dürfen wir uns setzen?“, fragt sie.

„Natürlich, natürlich! Kann ich euch etwas bringen - vielleicht etwas zu trinken.“

„Kannst du nicht.“, sagt er ausdruckslos und nimmt auf dem Sessel Platz – sie setzt sich auf die Armlehne.

Sein Vater sieht ihn an und er erwidert den Blick.

„Wie ist die Arbeit?“

„Gut. Vielleicht werde ich bald befördert.“

„Das ist ja wundervoll!“

Er nickt, und das Lächeln aus Stoff nickt mit ihm.

Plötzlich setzt sein Vater sich schwer auf das Bett. „Es tut mir leid.“

„Was tut dir Leid?“

„Alles.“ Er schluckt. „Dass ich nie Zeit für dich hatte, als du ein Kind warst. Dass ich mich nie gekümmert habe, als du älter geworden bist. Dass ich mich jetzt, wo du groß bist, nicht einmal mehr erinnern kann, was überhaupt dein Beruf ist. Dass ich ein schlechter Vater war.“

„Das warst du sicher nicht.“ Sein Blick wird weicher. „…erinnerst du dich noch an unseren Urlaub in Dänemark?“

Sein Vater schüttelt den Kopf. Ganz klein sieht er aus vor der weißen Wand.

„Wir hatten ein Ferienhaus gemietet und auf dem Weg dorthin in einem Geschäft einen Drachen gekauft. Ich war sehr aufgeregt deswegen und bestand darauf, dass wir ihn noch am selben Tag ausprobierten – ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Kaum, dass wir angekommen waren, packten wir einen kleinen Rucksack mit Proviant und fuhren mit dem Auto an den Strand. Es war später Nachmittag, das Wasser hatte sich weit nach draußen zurückgezogen und es wehte ein starker, böiger Wind. Wir gingen die letzten paar Meter zu Fuß durch die Dünen, dann ließen wir den Drachen steigen. Als er hoch in der Luft vor den Wolken tanzte, gabst du mir die Spulen, doch bald kam eine besonders heftige Bö und riss sie mir aus der Hand. Bevor ich ganz begriffen hatte, wie mir geschah, war der Drachen schon weit fortgeweht und kaum noch zu sehen. Ich weiß noch genau, wie traurig ich war – zumindest bis du gesagt hast, dass wir ihn suchen gehen würden. Wir sind also geradewegs ins Watt gelaufen, etwa in die Richtung, in die auch der Wind wehte.“

„Und? Haben wir ihn gefunden?“

Seine Augen lächeln. „Es hat Stunden gedauert – aber ja, wir haben ihn gefunden. Er war in einem Priel gelandet, hatte sich mit Wasser vollgesogen und war nicht mehr weitergeweht worden. Ich wollte versuchen, ihn gleich nochmal steigen zu lassen, aber du meintest, dass wir besser rasch umkehren sollten, da es langsam dunkel wurde und die Flut nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Der Wind hatte auch gedreht und trieb das Wasser nun hinter uns her auf den Strand zu. Wir waren schon fast zurück, als uns der Weg von einem besonders tiefen Priel versperrt wurde. Ich konnte nicht hindurchlaufen – ich war ja noch ganz klein – also nahmst du mich kurzerhand auf die Schultern und trugst mich bis an den Strand. Inzwischen war es beinahe ganz dunkel geworden. Jetzt müssen wir uns aber beeilen, hast du gesagt, damit wir das Auto finden, solange wir noch etwas sehen können.“

Er legt den Kopf ein wenig schief und zuckt mit den Schultern. „Wir haben es nicht gefunden. Es war auch niemand da, den wir hätten fragen können – die Dünen wollten es uns nicht verraten. Als wir eine Weile im Dunkeln hin und her gelaufen waren, haben wir beschlossen, nicht weiter nach dem Auto zu suchen, sondern etwas trockenes Treibholz und ein paar Gräser zu sammeln, um damit ein kleines Lagerfeuer zu machen. Ein Feuerzeug hattest du zum Glück mitgenommen, weil du ohne deine Zigaretten ja nie das Haus verlassen hast. Wir haben uns also in den Schutz der Dünen gesetzt, unsere mitgebrachten Brote gegessen und über dem Feuer Marshmallows gegrillt. Wir haben stundenlang über alles Mögliche geredet und irgendwann bin ich eingeschlafen.“

Er hält kurz inne und wirft seinem Vater einen Blick zu. Dieser hat die Augen geschlossen, ein kleines Lächeln liegt auf seinen Lippen.

„Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, hattest du mich mit deiner Jacke zugedeckt. Du sahst ziemlich müde aus – ich glaube, du hast die ganze Nacht Wache gehalten. Es war dann bald hell genug, dass wir das Auto finden konnten – wir hatten keine hundert Meter entfernt davon übernachtet. Wieder im Ferienhaus haben wir das leckerste Frühstück gehabt, dass ich jemals gegessen habe.“

Seine Augen lächeln über der Maske. „Also wenn du über die Vergangenheit nachdenkst, dann mach dir keine Vorwürfe, ein schlechter Vater gewesen zu sein – du warst alles andere als das.“

„Ich danke dir.“ Die Stimme des Alten klingt belegt.

„Nein – ich danke dir.“

„Kannst du…“ Sein Vater räuspert sich. „Kannst du mir noch mehr erzählen?“

Er wirft einen raschen Blick auf sein Handgelenk. „Sehr gerne – aber heute leider nicht mehr.“

„Ihr müsst schon gehen?“

„Ja – wir dürfen nur eine halbe Stunde bleiben – es ist doch Pandemie.“

„Ach ja, ach ja. …wann kommt ihr mich denn wieder besuchen?“

„Ich komme nächste Woche, zur gleichen Zeit.“, sagt er, und fügt dann noch leise hinzu „Wie immer.“

„Bitte entschuldige, das war so leise, die Maske…“

„Dann erzähle ich dir, wie du mir das Autofahren beigebracht hast, und wie ich einmal mitten in einem Kreisverkehr den Motor abgewürgt habe.“, sagt er, jetzt lauter.

Sein Vater lächelt. „Ich freue mich schon darauf.“

„Ich mich auch.“ Sie stehen jetzt an der Tür. „Bis bald!“

„Bis bald!“


Routiniert bindet er sich den Schal wieder um, steuert durch die weißen Flure und hat für die Bilder an den Wänden keinen einzigen Blick übrig.

„Du hast die Geschichte sehr gut erzählt.“

Er erwidert etwas, spricht aber zu leise, als dass sie ihn hinter dem Lächeln aus Stoff verstehen könnte.

„Wie bitte?“

„Ich habe sie schon oft erzählt.“

„…mir hast du sie nie erzählt.“

Er runzelt die Stirn. „Natürlich nicht. Das eine Mal, dass wir während meiner Kindheit tatsächlich zusammen in den Urlaub fahren wollten, musste mein Vater im letzten Moment geschäftlich in die Schweiz. Ich hatte eine einsame und stille Kindheit.“

„Oh.“, sagt sie und schweigt für einen Moment. „…dann ist die Geschichte, die du ihm nächstes Mal erzählen wirst, auch erfunden?“

Sie sind jetzt wieder draußen auf dem Parkplatz, stehen unter einem grauen Himmel auf grauem Beton. Er nimmt das Lächeln ab und wirft ihr einen raschen Blick zu. „Mach dich nicht lächerlich. Ich werde nächste Woche wieder hier hingehen, mich wieder eine halbe Stunde an sein Bett setzen und ihm erzählen, wie wir im Watt unseren Drachen verloren haben. Er wird überrascht und begeistert sein, und bevor ich gehe werde ich ihm für die Woche danach eine weitere Geschichte versprechen.“

„Aber das ist ja grausam!“

„Findest du?“




Laurin Lenschow

Herbst 2021





"Der verlorene Drachen" gewann den Jungen Literaturpreis Schleswig-Holstein 2022

und erreichte beim Förderpreis der Gruppe 48 2022 den Nominierungspreis.

Die Geschichte ist Teil meiner 2022 erschienenen Anthologie "Grenzgänger".


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