Flieg
- Laurin Lenschow
- 26. Juli 2023
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Nov. 2023

9496 Tage ist er alt. Daran muss er immer wieder denken, während er in seiner kleinen Privatmaschine nach Westen fliegt.
Das Festland hat er schon lange aus den Augen verloren; unter ihm Blau, über ihm Blau. Der CD-Player, den er sich mitgenommen hat, spielt die Filmmusik aus Cloud Atlas und übertönt damit das Summen des Motors. Schon seit der Mann vor gut sieben Stunden im bereits schwindenden Glanz der Nachmittagssonne überstürzt in den Flieger gestiegen ist, wandert sein Blick beständig zur Tankanzeige. Eine kleine rote Nadel, die sich unaufhaltsam der Null nähert, grausam ablaufende Zeit. Er fliegt mit gut 200 Stundenkilometern; die Reservekanister, die hinten im Flugzeug standen, hat er bereits geleert. Wenn der Tank dieses Mal leer ist, wird es endgültig sein. Er kann nicht noch einmal landen, um zu tanken, und die Zeit, um einen geeigneten Ort dafür zu finden, hat er schon gar nicht. Kurz tanzen schwarze Flecken vor seinen Augen, dann blinzelt er ein paar Mal heftig und kann wieder klar sehen. Es ist nicht das erste Mal, dass er auf diesem Flug fast ohnmächtig geworden wäre, aber ihm kann nichts passieren, solange er schnell genug ist. Oder zumindest redet er sich das ein, während er versucht, sich davon abzulenken, dass seine Kopfschmerzen in den letzten Stunden schlimmer geworden sind. Viel schlimmer, seit das Schmerzmittel nicht mehr wirkt.
Er denkt an seine schwangere Frau. Wahrscheinlich sitzt sie gerade in einem weißen, sterilen Krankenhauszimmer vor seinem leeren Bett und kann nicht verstehen, warum er fort ist. Falls ihre Wehen nicht schon eingesetzt haben, natürlich. Eine Tochter werden sie bekommen, meinten die Ärzte. Morgen ist Stichtag. Deswegen muss er weiterfliegen. Denn solange er fliegt, ist er sicher. Solange er die Sonne vor sich sieht, wird alles gut sein. Es tut ihm weh, dass er nicht bei seiner Tochter sein können wird, aber vielleicht können sie ja telefonieren, in einigen Jahren. Sie wird verstehen, dass er nur so für sie da sein kann, dass er all das für sie tut. Sein Blick wandert wieder zur Tankanzeige. Der rote Zeiger erzittert sachte und rückt dann ein Stückchen weiter in Richtung Null. Aber das kann nicht sein. Oder doch? Fliegt er nicht schnell genug? Verliert er die Sonne?
Ein Hirntumor im Endstadium, hatte der Arzt gesagt, und ihm noch zwei Wochen gegeben.
9496 Tage ist er alt. Heute ist sein letzter.
"Flieg" ist Teil meiner 2022 erschienenen Anthologie "Grenzgänger"
und wurde darüber hinaus in der 29. Ausgabe des #kkl-Magazins
für Kunst, Kultur und Literatur veröffentlicht. Die Geschichte ist außerdem
in der Anthologie des 8. Bubenreuther Literaturwettbewerbs veröffentlicht worden.
Link zu "Grenzgänger":
Link zur Anthologie des 8. Bubenreuther Literaturwettbewerbs:
Kommentare